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Leon Joskowitz im Interview
Vom Kochen und Töten
In seinem literarischen Debüt fragt der Frankfurter Philosoph, Koch und Kulturschaffende Leon Joskowitz nach dem Ursprung des Menschen und landet – in der Küche. Ein Interview über das Kochen, Denken und Töten.
JOURNAL FRANKFURT: Herr Joskowitz, es ist schwer möglich, Sie in eine Schublade zu stecken. Sie sind zunächst einmal Frankfurter, zudem Philosoph, Koch, Gärtner, Künstler, Moderator, Ethiklehrer und begeisterter Kulinariker. Sie haben außerdem mehrere Jahre das kulinarische Festival im Rahmen der Frankfurter Buchmesse und die Reihe Philosophisch Dinieren im Museum Angewandte Kunst verantwortet. Als freier Autor haben Sie nun mit „Vom Kochen und Töten“ Ihr literarisches Debüt vorgelegt. Worum geht es?
Es geht um Kochen und Essen und um die philosophische Frage: Was ist der Mensch? Als Philosoph ist meine Antwort natürlich inspiriert von denen anderer Philosophinnen und Philosophen, und doch ist sie anders. In aller Kürze: Der Mensch ist ein kochendes Tier. Anders gesagt, er unterscheidet sich von anderen Tieren durch sein Bewusstsein, das seinen Ursprung im Kochen hat – und, ja, auch im Töten. In den vergangenen zwanzig Jahren bin ich diesen Ursprüngen nachgegangen und habe aus beiden Bereichen, der Philosophie und der Küche, auf das menschliche Leben geschaut. Das Ergebnis meiner Suche nach der Herkunft des Menschen aus der Küche ist dieses Buch.
Sie beziehen sich darin auf archäologische Funde, rezitieren berühmte Philosophen und berufen sich auf wissenschaftliche Quellen. Dennoch ist „Vom Kochen und Töten“ weder eine wissenschaftliche noch eine philosophische Abhandlung im akademischen Sinne.
Das war das Ziel. Es ist eine Mischung aus Erzählung, Sachbuch und philosophischen Dialogen, wie wir sie von Platon kennen. Ich wollte ein philosophisches Buch schreiben, ohne den Beobachter loszuwerden. Der Beobachter, also ich, sollte eine aktive Rolle spielen. Man könnte sagen, es ist eine Art auto-fiktionale Philosophie, ein literarisches Zeugnis meines Reflexionsprozesses.
Woher kommt Ihre Faszination für die Themen Kochen und Essen?
Ich liebe das gutes Essen, weil es einer der größten Genüsse ist, die ich kenne. Außerdem liebe ich das Gesellige des miteinander Essens und das Sinnliche der Praxis des Kochens selbst. Und da ich auch Hedonist bin,
bin ich diesen Erfahrungen nachgegangen.
Und das ganz praktisch als Koch und Bäcker. War das eine Art Befreiungsschlag nach einem geisteswissenschaftlichen Studium?
Ich wollte unbedingt etwas Konkretes machen nach dem Studium. Meine Neugier und meine Leidenschaft für das gute Essen und all die Themen rund um die Küche haben mich zunächst in die Gastronomie verschlagen. Das hat mich interessiert. Also habe ich mir einen Job in einer Küche gesucht, später dann als Bäcker. Das war der Beginn meiner kulinarischen Wanderjahre.
Was kam nach der Küche und Backstube?
Über die Jahre habe ich verschiedene Tätigkeiten ausgeübt – manchmal länger, manchmal kürzer. Im Buch beschreibe ich einige meiner Stationen. Neben verschiedenen Restaurantküchen in Berlin und Frankfurt habe ich zum Beispiel in Rheinhessen bei der Weinlese oder in Italien bei der Olivenernte und in Oberrad als Gärtner gearbeitet. Außerdem bin ich bei meinen Reisen für das kulinarische Festival tief in die Küchenkulturen anderer Länder eingetaucht. So habe ich mich nach und nach in der ganzen Welt umgeschaut, welche Bedeutung das Kochen und Essen in der menschlichen Kultur und im menschlichen Leben spielt.
Also vom Anbau über die Produktion bis zur Ernte und Verarbeitung? Fehlt eigentlich nur das Praktikum bei der Müllabfuhr.
(lacht) Genau. Compost is the key to eternity. Das ist die ganze Reise. Vom Boden, in dem das Saatgut aufgeht, und der Pflanze über die Ernte bis zur Verarbeitung. Dazu kommen die Aufzucht, das Töten und Verarbeiten der Tiere. Handel spielt auch eine wichtige Rolle als Schnittstelle zwischen Land und Stadt. Und dann die Veredelung oder Verfeinerung in der Küche. Bevor das Ganze schließlich im Kompost landet, kommen zuvor noch die Darreichung und das Ambiente, in dem gegessen wird.
An welchem Punkt wird das Kochen für Sie nicht nur hedonistische Versorgungsgrundlage und Ausweg aus der akademischen Arbeit, sondern zum zentralen Teil Ihrer philosophischen Tätigkeit?
Es gab nicht ein Erweckungserlebnis, sondern die Suche nach der Herkunft des Menschen aus der Küche hat sich mir zuerst als Puzzle dargestellt. Ich habe gemerkt, dass man ausgehend vom Kochen und Essen in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineinschauen kann. Politik, Religion, Soziales, Gesundheit, Ästhetik, es gibt überall Berührungspunkte. Also muss es in der Entstehungsgeschichte des Menschen einen Zusammenhang geben, zwischen unserer menschlichen Kultur und dem Leben und Kochen am Feuer. Mich hat die Vorstellung beschäftigt, dass sich in dieser Situation am Feuer etwas verändert hat und wir zum Menschen wurden.
Wie muss man sich das vorstellen?
Fangen wir beim Sammeln an, heute sagen wir einkaufen. Das Sammeln machen Tiere auch. Da gibt es eine Verwandtschaft. Aber wir Menschen tragen die Nahrung in die Küche, an ein Feuer oder irgendeine Stelle, an der wir Lebensmittel verarbeiten. Wir zerschneiden sie, zerlegen sie in ihre Einzelteile, die wir der Hitze aussetzen und zu etwas Neuem verbinden. Dazu tritt die soziale Praxis. Wir kochen zusammen und wir essen zusammen, was die Frage birgt, wer darf mitessen und wer nicht, und aus welchen Gründen. Da ist man dann im Bereich der Moral und der Gesellschaftspolitik.
Apropos zerschneiden, Sie schreiben, „Menschen ohne Klingen sind nicht vorstellbar“. Ist der Naturzustand des Menschen ein bewaffneter?
Das ist anders zu verstehen. Beim Schneiden lernt der Mensch, wie man die Dinge auseinandernimmt, heute sagen wir „analysiert“. Wenn man ein Problem analysiert, heißt das nichts anderes, als dass man einen Sachverhalt in einzelne Elemente zerlegt, um etwas besser begreifen zu können. Wo wir heute das Messer in der Küche haben, hatten wir vor zwei Millionen Jahren den Faustkeil, das älteste Werkzeug. Meine These ist, dass sich aus dieser Praxis des Zerteilens, des Schneidens mit dem ältesten Werkzeug der Menschheit, das analytische Denken als Grundlage des menschlichen Bewusstseins und damit der Wesenskern des Menschen entwickeln konnte.
Also ist der Faustkeil der Anfang?
Er ist eine Grenze. Es gibt kein älteres Ding auf der Erde, in dem wir menschliche Absichten wiedererkennen.
Aber ein Faustkeil macht noch keine Küche.
Eben. Man könnte auch fragen: Gilt Schneiden schon als Kochen? Ich würde sagen, nein. Zum Kochen gehört Feuer. Und das bringt uns zu einem anderen wichtigen Aspekt und einer zweiten Grenze: die Verwandlung auf dem Feuer. Wenn man etwas aufs Feuer legt, verwandelt es sich – entweder es verbrennt oder es wird gar, und wenn man es mit etwas Abstand drüber hängt, wird es geräuchert und haltbar. In der Natur gibt es auch Verwandlungen etwa von reif zu verdorben oder von Tag zu Nacht, aber beim Kochen lernt der Mensch, die Verwandlung zu kontrollieren. Das ist das Entscheidende. Während andere Tiere sich einfügen in die Verwandlungen der Natur, setzt der Mensch sich in Distanz zu den Transformationsprozessen und übernimmt die Kontrolle. Dieses Kontrollieren setzt sich bis heute in allen Facetten unseres Lebens fort. Doch das Erste, was uns als Menschen interessiert hat, war die Kontrolle über die Herstellung und Verfügbarmachung von Nahrung.
Kann man nachvollziehen, seit wann mit Feuer gekocht wird?
Die frühsten archäologischen Hinweise für diese Kontrolle, für das Kochen mit Feuer, befinden sich im heutigen Israel und werden auf eine Zeit von vor ca. 790 000 Jahren datiert. Das ist die zweite Grenze. Beides zusammen, der Faustkeil und das Feuer, das Schneiden und das Zubereiten, das Analysieren und das Synthetisieren, kurz: das Kochen hat uns zum Menschen gemacht, in dem wir gelernt haben, die Welt zu gestalten – und zwar nach selbst gegebenen Gesetzen, wie Immanuel Kant das genannt hat. Dabei gestalten wir nicht nur den Braten, sondern auch den sozialen Raum, in dem bestimmt wird, wer welchen Teil vom Braten bekommt. Dafür findet man Regeln und gestaltet dadurch das soziale Miteinander. All das und mehr haben wir beim Kochen gelernt. Weshalb ich sage: Menschen, die nicht kochen, kann ich mir nicht vorstellen. Anders gesagt, der Mensch bewohnt eine kulinarische Lebensform.
Im Sinn einer eigenen Art?
Als „missing link“. Wir sind ja keine Affen. Aber wir waren mal Affen, sagt man. Und da die Natur keine Sprünge macht, muss es eine Zeit des Übergangs gegeben haben. Allerdings reicht die Erklärung einer genetischen Veränderung nicht aus, um die Entwicklung des Menschen aus dem Reich der Tiere zu begründen, da wir uns genetisch kaum von unseren tierischen Vorfahren unterscheiden. Also muss man andere Erklärungen finden, die die großen Unterschiede in der Lebensform begründen. Und die habe ich in der kulinarischen Lebensform gefunden, im Menschen als kochendem Tier.
Nun heißt das Buch ja „Vom Kochen und Töten“. Welche Rolle spielt das Töten für die Menschwerdung?
Eine entscheidende. Das Töten bei der Jagd oder am Feuer, in der Küche, ist ein existenzieller Moment. Im Unterschied zu den Tieren töten Menschen mit Waffen. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen dem Täter und dem Opfer. Diese Distanz schafft Raum, um sich selbst zu beobachten und zu reflektieren: Was tue ich? Was ist, wenn ich getötet werde? Das Nachdenken versetzt uns in die Lage, ethische Lebewesen zu sein. Wie können wir anders handeln, als die Natur es uns vorgibt.
Was können wir aus dieser Erkenntnis ziehen? Können wir andere Tiere töten, um sie zu essen?
Klar ist, Tiere als Objekte zu behandeln, die man aus Profitinteressen töten darf, ist ethisch falsch. Das sollte verboten sein. Dafür gib es Gründe, die ich im Buch formuliere. Aber ein Tier zu halten oder in Kontakt mit einem Tier zu treten, und dann zu entscheiden, ich bin bereit zu töten, darin sehe ich per se kein Problem. Das ist Natur. Das Töten mit Werkzeugen hat uns zum Menschen gemacht. In gewisser Hinsicht müssen wir zum Akt des Tötens zurückkommen, das Töten also nicht einfach passieren lassen. Ein Ziel des Buches ist es, ein Gespräch über das Töten und den Umgang mit den Tieren anzuregen.
Vom Kochen und Töten. Kulinarischen Meditationen über den Ursprung der Menschheit ist im Westend Verlag erschienen und kostet 22 Euro
Lesungen in Frankfurt:
11. Mai, 19 Uhr, Lesung mit Brotzeit
Heusenstamm – Raum für Kunst und Stadt,
Braubachstraße 34, Eintritt: 5 €
16. Mai, 19 Uhr, Lesung und Gespräch
mit Rudolf Rach, Genusskomplizen, An der
Kleinmarkthalle 7-9, Eintritt: frei
24. Mai, 19.30, Lesung und Gespräch
Buchhandlung Weltenleser, Oeder Weg 40, Eintritt: 7 €
Weitere Informationen: leonjoskowitz.de
Es geht um Kochen und Essen und um die philosophische Frage: Was ist der Mensch? Als Philosoph ist meine Antwort natürlich inspiriert von denen anderer Philosophinnen und Philosophen, und doch ist sie anders. In aller Kürze: Der Mensch ist ein kochendes Tier. Anders gesagt, er unterscheidet sich von anderen Tieren durch sein Bewusstsein, das seinen Ursprung im Kochen hat – und, ja, auch im Töten. In den vergangenen zwanzig Jahren bin ich diesen Ursprüngen nachgegangen und habe aus beiden Bereichen, der Philosophie und der Küche, auf das menschliche Leben geschaut. Das Ergebnis meiner Suche nach der Herkunft des Menschen aus der Küche ist dieses Buch.
Sie beziehen sich darin auf archäologische Funde, rezitieren berühmte Philosophen und berufen sich auf wissenschaftliche Quellen. Dennoch ist „Vom Kochen und Töten“ weder eine wissenschaftliche noch eine philosophische Abhandlung im akademischen Sinne.
Das war das Ziel. Es ist eine Mischung aus Erzählung, Sachbuch und philosophischen Dialogen, wie wir sie von Platon kennen. Ich wollte ein philosophisches Buch schreiben, ohne den Beobachter loszuwerden. Der Beobachter, also ich, sollte eine aktive Rolle spielen. Man könnte sagen, es ist eine Art auto-fiktionale Philosophie, ein literarisches Zeugnis meines Reflexionsprozesses.
Woher kommt Ihre Faszination für die Themen Kochen und Essen?
Ich liebe das gutes Essen, weil es einer der größten Genüsse ist, die ich kenne. Außerdem liebe ich das Gesellige des miteinander Essens und das Sinnliche der Praxis des Kochens selbst. Und da ich auch Hedonist bin,
bin ich diesen Erfahrungen nachgegangen.
Und das ganz praktisch als Koch und Bäcker. War das eine Art Befreiungsschlag nach einem geisteswissenschaftlichen Studium?
Ich wollte unbedingt etwas Konkretes machen nach dem Studium. Meine Neugier und meine Leidenschaft für das gute Essen und all die Themen rund um die Küche haben mich zunächst in die Gastronomie verschlagen. Das hat mich interessiert. Also habe ich mir einen Job in einer Küche gesucht, später dann als Bäcker. Das war der Beginn meiner kulinarischen Wanderjahre.
Was kam nach der Küche und Backstube?
Über die Jahre habe ich verschiedene Tätigkeiten ausgeübt – manchmal länger, manchmal kürzer. Im Buch beschreibe ich einige meiner Stationen. Neben verschiedenen Restaurantküchen in Berlin und Frankfurt habe ich zum Beispiel in Rheinhessen bei der Weinlese oder in Italien bei der Olivenernte und in Oberrad als Gärtner gearbeitet. Außerdem bin ich bei meinen Reisen für das kulinarische Festival tief in die Küchenkulturen anderer Länder eingetaucht. So habe ich mich nach und nach in der ganzen Welt umgeschaut, welche Bedeutung das Kochen und Essen in der menschlichen Kultur und im menschlichen Leben spielt.
Also vom Anbau über die Produktion bis zur Ernte und Verarbeitung? Fehlt eigentlich nur das Praktikum bei der Müllabfuhr.
(lacht) Genau. Compost is the key to eternity. Das ist die ganze Reise. Vom Boden, in dem das Saatgut aufgeht, und der Pflanze über die Ernte bis zur Verarbeitung. Dazu kommen die Aufzucht, das Töten und Verarbeiten der Tiere. Handel spielt auch eine wichtige Rolle als Schnittstelle zwischen Land und Stadt. Und dann die Veredelung oder Verfeinerung in der Küche. Bevor das Ganze schließlich im Kompost landet, kommen zuvor noch die Darreichung und das Ambiente, in dem gegessen wird.
An welchem Punkt wird das Kochen für Sie nicht nur hedonistische Versorgungsgrundlage und Ausweg aus der akademischen Arbeit, sondern zum zentralen Teil Ihrer philosophischen Tätigkeit?
Es gab nicht ein Erweckungserlebnis, sondern die Suche nach der Herkunft des Menschen aus der Küche hat sich mir zuerst als Puzzle dargestellt. Ich habe gemerkt, dass man ausgehend vom Kochen und Essen in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineinschauen kann. Politik, Religion, Soziales, Gesundheit, Ästhetik, es gibt überall Berührungspunkte. Also muss es in der Entstehungsgeschichte des Menschen einen Zusammenhang geben, zwischen unserer menschlichen Kultur und dem Leben und Kochen am Feuer. Mich hat die Vorstellung beschäftigt, dass sich in dieser Situation am Feuer etwas verändert hat und wir zum Menschen wurden.
Wie muss man sich das vorstellen?
Fangen wir beim Sammeln an, heute sagen wir einkaufen. Das Sammeln machen Tiere auch. Da gibt es eine Verwandtschaft. Aber wir Menschen tragen die Nahrung in die Küche, an ein Feuer oder irgendeine Stelle, an der wir Lebensmittel verarbeiten. Wir zerschneiden sie, zerlegen sie in ihre Einzelteile, die wir der Hitze aussetzen und zu etwas Neuem verbinden. Dazu tritt die soziale Praxis. Wir kochen zusammen und wir essen zusammen, was die Frage birgt, wer darf mitessen und wer nicht, und aus welchen Gründen. Da ist man dann im Bereich der Moral und der Gesellschaftspolitik.
Apropos zerschneiden, Sie schreiben, „Menschen ohne Klingen sind nicht vorstellbar“. Ist der Naturzustand des Menschen ein bewaffneter?
Das ist anders zu verstehen. Beim Schneiden lernt der Mensch, wie man die Dinge auseinandernimmt, heute sagen wir „analysiert“. Wenn man ein Problem analysiert, heißt das nichts anderes, als dass man einen Sachverhalt in einzelne Elemente zerlegt, um etwas besser begreifen zu können. Wo wir heute das Messer in der Küche haben, hatten wir vor zwei Millionen Jahren den Faustkeil, das älteste Werkzeug. Meine These ist, dass sich aus dieser Praxis des Zerteilens, des Schneidens mit dem ältesten Werkzeug der Menschheit, das analytische Denken als Grundlage des menschlichen Bewusstseins und damit der Wesenskern des Menschen entwickeln konnte.
Also ist der Faustkeil der Anfang?
Er ist eine Grenze. Es gibt kein älteres Ding auf der Erde, in dem wir menschliche Absichten wiedererkennen.
Aber ein Faustkeil macht noch keine Küche.
Eben. Man könnte auch fragen: Gilt Schneiden schon als Kochen? Ich würde sagen, nein. Zum Kochen gehört Feuer. Und das bringt uns zu einem anderen wichtigen Aspekt und einer zweiten Grenze: die Verwandlung auf dem Feuer. Wenn man etwas aufs Feuer legt, verwandelt es sich – entweder es verbrennt oder es wird gar, und wenn man es mit etwas Abstand drüber hängt, wird es geräuchert und haltbar. In der Natur gibt es auch Verwandlungen etwa von reif zu verdorben oder von Tag zu Nacht, aber beim Kochen lernt der Mensch, die Verwandlung zu kontrollieren. Das ist das Entscheidende. Während andere Tiere sich einfügen in die Verwandlungen der Natur, setzt der Mensch sich in Distanz zu den Transformationsprozessen und übernimmt die Kontrolle. Dieses Kontrollieren setzt sich bis heute in allen Facetten unseres Lebens fort. Doch das Erste, was uns als Menschen interessiert hat, war die Kontrolle über die Herstellung und Verfügbarmachung von Nahrung.
Kann man nachvollziehen, seit wann mit Feuer gekocht wird?
Die frühsten archäologischen Hinweise für diese Kontrolle, für das Kochen mit Feuer, befinden sich im heutigen Israel und werden auf eine Zeit von vor ca. 790 000 Jahren datiert. Das ist die zweite Grenze. Beides zusammen, der Faustkeil und das Feuer, das Schneiden und das Zubereiten, das Analysieren und das Synthetisieren, kurz: das Kochen hat uns zum Menschen gemacht, in dem wir gelernt haben, die Welt zu gestalten – und zwar nach selbst gegebenen Gesetzen, wie Immanuel Kant das genannt hat. Dabei gestalten wir nicht nur den Braten, sondern auch den sozialen Raum, in dem bestimmt wird, wer welchen Teil vom Braten bekommt. Dafür findet man Regeln und gestaltet dadurch das soziale Miteinander. All das und mehr haben wir beim Kochen gelernt. Weshalb ich sage: Menschen, die nicht kochen, kann ich mir nicht vorstellen. Anders gesagt, der Mensch bewohnt eine kulinarische Lebensform.
Im Sinn einer eigenen Art?
Als „missing link“. Wir sind ja keine Affen. Aber wir waren mal Affen, sagt man. Und da die Natur keine Sprünge macht, muss es eine Zeit des Übergangs gegeben haben. Allerdings reicht die Erklärung einer genetischen Veränderung nicht aus, um die Entwicklung des Menschen aus dem Reich der Tiere zu begründen, da wir uns genetisch kaum von unseren tierischen Vorfahren unterscheiden. Also muss man andere Erklärungen finden, die die großen Unterschiede in der Lebensform begründen. Und die habe ich in der kulinarischen Lebensform gefunden, im Menschen als kochendem Tier.
Nun heißt das Buch ja „Vom Kochen und Töten“. Welche Rolle spielt das Töten für die Menschwerdung?
Eine entscheidende. Das Töten bei der Jagd oder am Feuer, in der Küche, ist ein existenzieller Moment. Im Unterschied zu den Tieren töten Menschen mit Waffen. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen dem Täter und dem Opfer. Diese Distanz schafft Raum, um sich selbst zu beobachten und zu reflektieren: Was tue ich? Was ist, wenn ich getötet werde? Das Nachdenken versetzt uns in die Lage, ethische Lebewesen zu sein. Wie können wir anders handeln, als die Natur es uns vorgibt.
Was können wir aus dieser Erkenntnis ziehen? Können wir andere Tiere töten, um sie zu essen?
Klar ist, Tiere als Objekte zu behandeln, die man aus Profitinteressen töten darf, ist ethisch falsch. Das sollte verboten sein. Dafür gib es Gründe, die ich im Buch formuliere. Aber ein Tier zu halten oder in Kontakt mit einem Tier zu treten, und dann zu entscheiden, ich bin bereit zu töten, darin sehe ich per se kein Problem. Das ist Natur. Das Töten mit Werkzeugen hat uns zum Menschen gemacht. In gewisser Hinsicht müssen wir zum Akt des Tötens zurückkommen, das Töten also nicht einfach passieren lassen. Ein Ziel des Buches ist es, ein Gespräch über das Töten und den Umgang mit den Tieren anzuregen.
Vom Kochen und Töten. Kulinarischen Meditationen über den Ursprung der Menschheit ist im Westend Verlag erschienen und kostet 22 Euro
Lesungen in Frankfurt:
11. Mai, 19 Uhr, Lesung mit Brotzeit
Heusenstamm – Raum für Kunst und Stadt,
Braubachstraße 34, Eintritt: 5 €
16. Mai, 19 Uhr, Lesung und Gespräch
mit Rudolf Rach, Genusskomplizen, An der
Kleinmarkthalle 7-9, Eintritt: frei
24. Mai, 19.30, Lesung und Gespräch
Buchhandlung Weltenleser, Oeder Weg 40, Eintritt: 7 €
Weitere Informationen: leonjoskowitz.de
9. Mai 2023, 10.07 Uhr
Sebastian Schellhaas
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